Jeder Mensch möchte über sich bestimmen. Wie sehr hassen wir es, wenn wir eine:n Chef:in haben, die/der uns ständig sagt, was wir zu tun und zu lassen haben? Wie sehr waren wir früher vom Stundenplan in der Schule genervt, der uns zwang, morgens aufzustehen und uns Themen zu stellen, die wir nicht mochten? Wie ätzend war es, wenn unsere Eltern uns Vorschriften gemacht haben?
Und dann kommt der Moment, wo wir diese Eltern sind. Wo wir eine große Verantwortung übernehmen. Nämlich die für unsere Kinder. Wie schnell passiert es dann plötzlich, dass wir über ein anderes Menschenleben bestimmen? Das Kind kann nicht bestimmen wo es lebt, in welcher Umgebung oder auch wer seine Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Fürsorge, Liebe usw. befriedigt. Dieses Kind ist von uns abhängig. Es kann sich noch nicht um sich selbst kümmern.
Bei gesunden Kindern ist sehr schnell zu spüren, dass da von Beginn an ein eigener Wille ist. Der wird als Neugeborenes mit Weinen geäußert, bei meinem sieben Monate altem Sohn gerade auch mit Knurren, später zeigen und sagen die Kinder was sie wollen. Oder wenn ihnen etwas missfällt und der Wortschatz noch nicht ausreicht, wird auch mal gehauen, geworfen, getreten …
Auch besondere Kinder haben ihren eigenen Willen. Sie haben nur manchmal andere Wege, um ihn zum Ausdruck zu bringen.
Aber wie sehr kann ein besonderes Kind über sich bestimmen? Geht das? Pflegebedürftig sein und selbstbestimmt? Ich denke, das ist möglich. Vielleicht bin ich zu optimistisch. Aber ich bleibe dabei – es ist möglich. Wenn wir aufmerksam sind. Wir, die Pflegepersonen. Ein Kind mit Weglauftendenz, welches keinerlei Gefahreneinschätzung hat, kann im Straßenverkehr nicht selbst bestimmen, wohin es sich bewegt. Dafür kann es durchaus entscheiden, wann und was es spielen will. Ein Kind, welches nicht verbal mit uns sprechen, aber Nahrung zu sich nehmen kann, kann durchaus selbst entscheiden, wie viel und was es essen will. Wir müssen nur auf seine Zeichen achten. Zeichen wie ein Zeigen, ein Blick oder ein Wegdrehen, wenn es satt ist beispielsweise.
Selbstbestimmung ist Freiheit für mich. Gesunden Kindern geben wir schon eine ganze Menge vor. Wann sie in die Kita sollen damit wir arbeiten können, wann sie sich Besuch einladen dürfen, wo sie wie wohnen … Bei besonderen Kindern ist noch viel mehr vorgegeben. Arzttermine, Therapietermine, eventuell noch Medikamentengaben oder andere medizinische Maßnahmen. Deshalb ist es umso wichtiger die Bereiche wo Selbstbestimmung möglich ist, frei zu lassen. Dem Kind zu vertrauen, dass es intuitiv für sich entscheidet. Dem Kind die Möglichkeit lassen sich auszuprobieren, Erfahrungen zu sammeln und vielleicht sogar eigene Erfolgserlebnisse zu schaffen.
Manch einer wird das lesen und sich denken „Aber es gibt eben Dinge, die müssen sein“! Ja, klar. Ein Kind mit Diabetes muss Blutzuckermessungen und Insulin bekommen. Das kann nicht bestimmen, dass wir das jetzt mal einfach alles weglassen. Und ein Kind mit einem Tracheostoma welches nicht adäquat Husten kann, muss sehr wahrscheinlich hin und wieder Sekret abgesaugt bekommen. Und ein Kind mit muskulärer Schwäche braucht Physiotherapie zur Stärkung und zur Vermeidung steifer Gelenke. Ja. Ich weiß. Für mich stellt sich hier die Frage des wie und wie oft. Merke ich als Pflegeperson, dass ich in die Grenzen des Kindes einschreite? Habe ich Respekt davor? Oder ist es mir egal?
Nehmen wir das Beispiel mit dem Absaugen. Kann das Kind sich und seinen Körper spüren? Dann wird es auch spüren, wenn es abgesaugt werden muss. Kann ich mit dem Kind Zeichen vereinbaren? Dann könnte ich auf dieses Zeichen warten mit dem Absaugen. So kann das Kind wenigstens den Zeitpunkt selbst bestimmen. Ist keinerlei Absprache möglich, muss ich dem Kind wenigstens Bescheid geben, bevor ich mit dem Absaugen beginne.
Ich finde zwei Aspekte wichtig beim Thema selbstbestimmtes, pflegebedürftiges Kind:
Ich möchte euch ermutigen: Wenn das Kind Dinge über (Körper-) Sprache äußern kann, dann hört und schaut hin. Wenn Papa die Zähne putzen soll und Mama vorlesen – dann macht das, wenn es euch möglich ist. Alleine, dass sie es äußern können, ist ein Geschenk! Und ihr macht ihnen das Geschenk der Selbstbestimmung. Denkt dran: Ihr bestimmt auch wo ihr arbeitet, mit wem ihr lebt und ob ihr Fernsehen schaut oder ein Buch lest. Gesteht das Recht der Freiheit und Selbstbestimmung wo immer es möglich ist, auch euren Kindern zu.
Und wenn ihr glaubt, bei eurem Kind sei das gar nicht möglich, oder ihr stoßt mit dem Willen eures Kindes an eure Grenzen oder ihr als Eltern seid uneinig bezüglich der Selbstbestimmung eures Kindes, dann ruft gerne bei uns an und fragt nach mir. Gerne stehe ich euch beratend zur Seite!